Brustkrebs u. andere Brusterkrankungen
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Stand: 05.11.2000

Prof. Dr. V. Barth,
Esslingen 1999-2000
Psychologie

Patienten mit Krebs: 
Information und emotionale Unterstützung
aus: Deutsches Ärzteblatt 97, Heft 46 vom 17.11.00 
Seite A-3076 [THEMEN DER ZEIT] Publikation Nr. 30, Februar 1994
 
Inhalt
Viele Ärzte sind nicht ausreichend auf die psychischen  Belastungen eines Aufklärungsgesprächs bei einer Krebsdiagnose vorbereitet. Zur Diskussion steht nicht mehr, ob man einen Patienten aufklären, sondern wie ein Arzt dies tun soll.


Autor: Schlömer-Doll, Dr. phil. Ute; Doll, Dr. med. Dietrich IMPRESSUM


Aufklärung ist Informationsvermittlung. Ein Patient wird von einem Arzt über seine Erkrankung und die empfohlene Therapie aufgeklärt. Umfang und Tiefgang der Aufklärung sollen sich nach Dringlichkeit des Eingriffs richten und sich am Bildungs- und Wissensstand des Patienten orientieren. Im Anschluss an das Gespräch vermerkt der Arzt schriftlich in der Patientenakte, wie der Aufklärungsstand des Patienten ist und ob er den Eindruck hat, dass der Patient alles verstanden hat. Dieser soll daraufhin eine Einwilligungserklärung auf dem Aufklärungsbogen unterschreiben. Damit bestätigt er, umfassend aufgeklärt worden zu sein. Die Aufklärungssituation stellt oft eine deutliche Überforderung für Arzt und Patient dar.
Wenn ein Patient mit der Verdachtsdiagnose „Krebs“ konfrontiert wird, hat er in der Regel bereits eine umfangreiche Diagnostik, die häufig mit einem Krankenhausaufenthalt verbunden ist, durchlaufen. Dies war eine Zeit des Hoffens und des Bangens, mit Anflügen von Panik, Hilflosigkeits- und Ohnmachtsgefühlen. Gleichzeitig gibt es die Hoffnung, alles möge sich als ein „entsetzlicher Irrtum“ erweisen. Mit der Aufklärung zur Therapie gibt es zwar Diagnosegewissheit, gleichzeitig eröffnet sich ein neues Feld der Unsicherheit.
Beim Aufklärungsgespräch stellt sich die Situation für die Beteiligten grundsätzlich unterschiedlich dar. Der Arzt ist „bei der Arbeit“, der Patient befindet sich in einer Extremsituation (Tabelle). Für den Arzt bedeutet das Aufklärungsgespräch ein strukturiertes Gespräch. Es umfasst in der Regel:
* Ziel der Behandlung (Befund und Wirkung der Behandlung)
* Ablauf der Behandlung (Therapieplanung, Zeitplan)
* akute Nebenwirkungen
* langfristige Spätfolgen
* Nachsorgeuntersuchungen
* Verhaltensregeln.
Tabelle 
Aufklärungsgespräch: Unterschiedliche Situation für die Beteiligten
 
Arzt Patient
Lebenssicht  Arbeitssituation Existenzielles Lebensgefühl
Wissen Expertenwissen Laienwissen
Rolle aktiv eher passiv
Bewusstsein wach absorbiert oder „gefesselt"
Gefühle kontrolliert Gefühlschaos
Spielraum eng weit
Weltsicht mittendrin „am Rande“ oder isoliert
Zeiterleben Normalzeit „Innere“ Zeit(In Anlehnung an Klusmann 2000)
Eine nicht vollständige Aufklärung ist eine Entmündigung des Patienten. Oft ahnen die Patienten, dass „nicht alles gesagt worden ist“. 
Während der Arzt diese Gliederungspunkte (Klusmann 1998) „abarbeiten“ muss, beschäftigen den Patienten möglicherweise ganz andere Themen, beispielsweise:
* Wie konnte das geschehen?
* Muss ich nun sterben?
* Bin ich bisher falsch behandelt worden?
* Was wird aus meiner Frau und unseren Kindern?
* Werde ich meine Arbeit behalten, wenn ich länger ausfalle?
* Wie wird es weitergehen?
* Was hat das für Folgen?
Kommunikationsprobleme scheinen programmiert, wenn man die verschiedenen Erlebniswelten der Ärzte und Patienten reflektiert. Das Ausmaß der Unterschiedlichkeit dieser persönlichen „Wirklichkeiten“ ist nicht allen aufklärenden Ärzten bewusst.
Noch vor 10 bis 15 Jahren wurden krebskranke Menschen oft gar nicht, verschleiert oder zumindest unvollständig über ihr Leiden informiert. Gründe waren die antizipierte Überreaktion der Patienten bis hin zum Suizid; weiter noch die Vorstellung, dem Patienten noch eine schöne, weil ahnungslose Lebensphase zu ermöglichen. 
Das Wissen um eine Krebserkrankung und die notwendige Behandlung ist für den betroffenen Patienten schmerzhaft. Die Vermittlung von Wissen über „das, was ist und kommt“ hat jedoch einen hohen Stellenwert, weil es den Patienten erst in die Lage versetzt, sich der Situation zu stellen und seine Kräfte und Bewältigungsstrategien zu mobilisieren.
In der Literatur und auch in Diskussionen mit Ärzten tauchen immer wieder Argumente gegen eine offene Aufklärung auf. Jaspers versuchte bereits 1954 die Frage, ob ein Patient seine Krebsdiagnose wissen will, zu beantworten, und kam zu dem Schluss: „Der Kranke will es nicht wissen. Falls er das Gegenteil sagt, begehrt er Beruhigung, nicht Wahrheit.“ Die Auffassung, dass der Kranke nur die gute Nachricht hören will und alles andere verdrängt, wird auch 1975 von Hoff vertreten. Er glaubte, dass durch die Diagnosemitteilung die Hoffnung zerstört werde, die der Mensch zum Weiterleben brauche. Er unterstrich, dass der Arzt „nicht das Recht habe, die letzte Hoffnung eines Kranken zu zerstören“, weil sich dann sein Leiden rapide verschlechtern würde. 
Eine 59-jährige Patientin mit einem Non-Hodgkin-Lymphom erzählte, der Oberarzt habe sie mit zwei Sätzen aufgeklärt. Er sagte: „Der Befund ist leider nicht so ausgefallen, wie wir es uns gewünscht haben; wir können Sie aber mit Medikamenten behandeln!“ Erst als die Stationsärztin von einer Chemotherapie gesprochen hatte, war ihr schlagartig klar geworden, dass sie Krebs hatte und wie bedrohlich die Situation für sie war.
Eine 52-jährige Patientin war an einem Zungengrundkarzinom und Lymphknotenmetastasen erkrankt. Ihre rechte Halsseite fühlte sich holzhart an. Sie fragte den Oberarzt: „Was ist das?“ Er antwortete: „Das muss wieder ganz weich werden. Darum bekommen Sie unsere Therapie!"
Dabei schließt das Wissen um eine Krebsdiagnose Hoffnung keineswegs aus. Hoffnung ist in allen Phasen einer Krebserkrankung zu beobachten. Sie dient der Angstabwehr. Sie scheint eine emotionale menschliche Grundhaltung zu sein, die so viele Facetten haben kann wie das Leben selbst. Auch das Vorurteil, eine offene Aufklärung über eine Krebsdiagnose könne einen Patienten in den Suizid treiben, ist nicht haltbar. Entgegen dramatischen Einzelbeispielen in den Medien ist die Suizidrate von krebsbetroffenen Menschen nicht höher als die der Durchschnittsbevölkerung.
Bei schriftlichen Befragungen von 124 Krebspatienten (118 Frauen, 6 Männer) in der Nachsorge (Schlömer-Doll und Doll 2000) setzten die Teilnehmer an die erste Stelle von zwölf einzuschätzenden Bedürfnissen: „Ich möchte, dass mein Arzt mir immer die volle Wahrheit sagt.“ Allerdings war es ihnen ebenfalls sehr wichtig, „dass negative Nachrichten schonend vermittelt“ werden würden (an siebter Stelle von 15 genannten Rechten). 
Mit „schonend“ ist „einfühlsam“ gemeint. Als die Ergebnisse im Patientenkreis diskutiert wurden, meinte eine Patientin: „Es kommt auf die Wortwahl an!“ Eine andere sagte: „Nicht alles auf einmal und nicht im Mehrbettzimmer!“ Auch in palliativer Situation kann die Wortwahl des Arztes große Unterschiede für den Patienten machen. Zwischen den Sätzen: „Da ist nichts mehr zu machen!“ und „Wir können hier nichts mehr für Sie tun!“ liegen Welten. Der zweite Satz lässt dem Patienten die Hoffnung, an anderer Stelle noch geeignete Hilfe zu finden, wenn es vielleicht auch nur lindernde ist.
Zur Diskussion sollte also nicht mehr stehen, ob man einen Menschen über seine Krebsdiagnose aufklären, sondern wie ein Arzt dies tun sollte.
Ärzte erfahren während ihrer Ausbildung kein Training für die Aufklärung von Patienten. In den Abteilungen gibt es kaum eine Auseinandersetzung mit oder eine Fortbildung zu dem Thema. 
Viele Ärzte berichten später von „abschreckenden Aufklärungsbeispielen“ in ihrer klinischen Weiterbildung. Ein Arzt berichtete: „Bei einer 45-jährigen Patientin hatte die Biopsie bösartige Zellen in der Magenwand ergeben. Während einer Drei-Minuten-Visite eröffnete ihr der Chefarzt folgende Diagnose: „Sie haben da etwas Böses im Magen. Das gehört da nicht hin. Morgen werden wir den Magen entfernen."
Die eigentliche Aufklärung muss in solchen Fällen häufig der Assistenzarzt nachholen. Derart überfahrene Patienten psychisch wieder aufzurichten dauert lange.
Wenn Ärzte eine Hilfestellung in der Fachliteratur suchen, finden sie dort in der Regel nur wenig konkrete Aussagen. Aber auch die vorhandene Literatur mit praktischen Hilfestellungen und Handlungsanweisungen hilft nur dann weiter, wenn eine persönliche Auseinandersetzung mit der Rolle als aufklärender Arzt erfolgt. 
Der Aufklärungsstil eines Arztes ist von seiner Persönlichkeit und seinen eigenen Vorerfahrungen abhängig. Im Rahmen einer gemeinsamen Reflexion ärztlicher Aufklärungsgespräche erzählte ein Arzt, dass jedes Aufklärungsgespräch für ihn „ein Horror“ sei. Er wollte Facharzt für Röntgendiagnostik werden. Die Nähe zu den Krebspatienten, die er bei seiner Ausbildung im Aufklärungsgespräch hatte, empfand er als äußerst belastend. Er sehnte sich in die Diagnostikabteilung zurück, wo er wieder „Bilder befunden“ würde. Dieser Arzt gab sich Mühe, aber sein Aufklärungsgespräch hatte den Stil eines Vortrages ohne anschließende Diskussion. Er ignorierte sämtliche Signale seiner Patienten, die den Vortrag zu einem Gespräch hätten werden lassen können.
Ein anderer Arzt vermied grundsätzlich das Wort „Krebs“. Er sprach gegenüber den betroffenen Patienten von „Raumforderung“ oder „Zellen, die dort nicht hingehören“. In einem vertraulichen Gespräch über diese Beobachtung meinte er, dass das Wort „Krebs“ für ihn „etwas sei“, was er seinen Patienten nicht „zumuten“ wollte. Krebs war für ihn emotional gleichbedeutend mit „sterben müssen“, obgleich er fachlich wusste, dass dies nicht immer den Tatsachen entsprach.
Manche Ärzte haben das Gefühl, als „Überbringer der Hiobsbotschaft“ selbst „Mitverursacher“ von Leid zu sein. Ein solches Erleben ist angesichts der manchmal sehr emotionalen Reaktionen von Patienten auf ihre Krebsdiagnose nachvollziehbar, allerdings für den betroffenen Arzt fatal, da es nicht nur seine Kompetenz schmälert, sondern auch das eigene Lebensgefühl unterminiert.
Zu einer guten Aufklärungskompetenz gehört deshalb auch die Reflexion: das Wahrnehmen und das Bearbeiten eigener Ängste und Befürchtungen. Erst dadurch kann die jeweilige Realität des Patienten wahrgenommen und von ärztlicher Seite adäquat darauf reagiert werden. In diesem Zusammenhang spielt auch die Haltung des aufklärenden Arztes zum Thema „Sterben und Tod“ eine wichtige Rolle. 
Der Medizinjurist Eberbach formulierte: „Hält der Arzt Krankheit und Tod für wesentliche Dimensionen des Menschlichen, wird er eher geneigt sein, die ihn fragenden Kranken umfassend aufzuklären, weil er ihnen damit einen wichtigen Teil ihres persönlichen Schicksals erschließt. . . . Sieht er dagegen das Sterben in der definitiven Negation, als Anfang endgültiger Sinnlosigkeit;oder verdrängt er Gedanken an eigenen Tod und Siechtum; oder befällt ihn angesichts des sterbenden Patienten Hilflosigkeit, weiß er nicht, wie mit ihm reden; wird seine Neigung, den Patienten ausführlich aufzuklären, viel geringer sein.“
Die Beziehung zwischen Arzt und Patient im Aufklärungsgespräch wird nicht nur durch das Persönlichkeitsmuster des aufklärenden Arztes bestimmt, sondern auch durch das des aufzuklärenden Patienten.
Bei den Patienten sind vor allem Verleugnungs- und Verdrängungsphänomene beeindruckend. Einen extremen Fall von Verdrängung schilderte ein Arzt: Er hatte einen Patienten mit infauster Prognose, dem es sehr schlecht ging, „sehr offen aufgeklärt“, indem er die Nebenwirkungen „sehr deutlich“ hervorgehoben hatte, um zu verhindern, dass sich der Patient doch noch auf eine weitere Therapie einlassen würde, die in seinen Augen nichts genutzt und seinen ohnehin schlechten Zustand noch verschlimmert hätte. Der Patient hatte sich dennoch zu einer Strahlentherapie entschlossen und nicht nur seine schlechte Prognose, sondern auch ihn, den aufklärenden Arzt, verdrängt. Bei Begegnungen in der Abteilung für Strahlentherapie verhielt sich der Patient gegenüber dem Arzt, als würde er ihn nicht kennen und als hätte er nie mit ihm gesprochen.
Aufklärung bedeutet Informationsvermittlung. Dennoch ist die Information nicht das Entscheidende bei der Aufklärung (Köhle 1984). Entscheidend ist die gleichzeitig vermittelte emotionale Unterstützung bei der Verarbeitung der Information. Die Aufklärungssituation erfordert vom aufklärenden Arzt ein großes Maß an Einfühlungsvermögen und Flexibilität. Der Arzt ist gefordert, den Patienten und seine subjektiven Theorien über Krebserkrankungen und die damit verbundenen Ängste und Abwehrmechanismen kennen zu lernen, um so ein Vertrauen schaffendes Aufklärungsgespräch führen zu können. 
Wichtig für die Diagnoseverarbeitung sind die Laientheorien der Krebspatienten und ihre Vorerfahrungen mit anderen Krebskranken. Bei einer Studie zum Thema Aufklärung gaben 80 Prozent der befragten Patienten (65 Ambulanzpatienten und 41 stationäre Krebspatienten) an, eine Krebserkrankung im Bekannten- oder Familienkreis miterlebt zu haben (Jonasch 1985). Dabei hatten lediglich 11,9 Prozent eine Heilung miterlebt. Die geschilderten negativen Erfahrungen überwogen also bei weitem. Da heute jeder dritte Krebspatient langfristig überlebt, muss davon ausgegangen werden, dass sich negative Krankheitsverläufe mehr einprägen als positive Entwicklungen. Auch die Berichterstattung in den Medien spielt hierbei eine wichtige Rolle. Krebs wird immer noch als eine „Geißel der Menschheit“ bezeichnet. Auffällig ist die Personifizierung der Krebserkrankungen. Begriffe wie „heimtückisch, hinterhältig und gemein“ charakterisieren die Krebserkrankung als persönlichen Feind, der sich im eigenen Körper eingenistet hat. Auch das Vokabular rund um die Krebstherapie ist recht kriegerisch („Kampf dem Krebs!“ oder „Die Waffen strecken müssen“). Solche Assoziationen können die Angst der Patienten deutlich schüren.
Für den Arzt kann es in seiner Beziehung zum Patienten sehr fruchtbar sein, die Theorien und inneren Bilder seines Patienten zum Zeitpunkt des Aufklärungsgesprächs zu kennen; allerdings wird im Aufklärungsgespräch so gut wie nie danach gefragt. 
Bei der Aufklärung eines Patienten stellt sich die Frage: Muss immer alles gleich sofort gesagt werden? Dies ist nicht immer unbedingt angezeigt. Die Aufklärung sollte grundsätzlich als ein Prozess verstanden werden. Es geht um eine schrittweise Informationsvermittlung. Hierunter versteht man allerdings keine kurzsichtigen oder hilflosen Zwecklügen, die sich mit dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient schlecht vertragen.
Wenn im Aufklärungsgespräch deutlich wird, dass der Patient nicht weiter aufnahmefähig ist, dann sollte das Gespräch beendet und zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden. Wichtig ist dann, den Patienten da „abzuholen“, wo er sich in seiner Diagnosebewältigung befindet, beispielsweise mit der Frage: Mögen Sie einmal für mich zusammenfassen, was sie von unserem letzten Gespräch behalten haben? In diesem zweiten Aufklärungsgespräch sollte auf jeden Fall auch nach Vorerfahrungen mit Krebserkrankungen und damit verbundenen eigenen Befürchtungen gefragt werden. Auch wenn dieses zweite Gespräch kurz ist, kann es einen nachhaltig Vertrauen schaffenden und entspannenden Effekt haben.
Eine Patientin war mit einer langen Liste von Fragen in das zweite Aufklärungsgespräch in die Strahlentherapie gegangen. Sie sagte im Anschluss zu mir: „Das Gespräch lief ganz anders. Viele Fragen waren gar nicht mehr wichtig, wichtiger war, dass ich mich aufgehoben gefühlt habe und unterstützt in meiner Art, wie ich mit meiner Erkrankung fertig werde."
Oft liest man die Empfehlung, dass der Arzt sich in die Lage des Patienten einfühlen sollte, dass er ihm Zeit lassen und durch Nachfragen klären sollte, was der Patient verstanden hat und was nicht. Hier kollidiert der Anspruch mit der klinischen Wirklichkeit. Im Alltag erlebt sich der Arzt oft als Dienstleistender und Mediator einer „Fünf-Minuten-Medizin“, selbst wenn die Zeit für Aufklärungsgespräche in Einzelfällen auf 30 Minuten ausgedehnt werden kann. Das Gespräch mit dem Patienten wird nicht ausreichend honoriert, wohl aber technisch-diagnostische Untersuchungen. 
Die Angst vieler Ärzte vor Schadensersatzklagen verführt dazu, den Krebspatienten mit mehr Fakten über Nebenwirkungen und Spätfolgen der Behandlung zu konfrontieren, als dieser vielleicht zu dem jeweiligen Zeitpunkt verkraften kann. Bei einer juristischen Auseinandersetzung muss der Arzt beweisen, dass er den Patienten angemessen aufgeklärt hat. Deshalb kann bei einigen Aufklärungsverläufen der Eindruck entstehen, dass die Unterschrift des Patienten auf dem Aufklärungsbogen wichtiger ist, als Klarheit darüber zu haben, was beim Patienten von der Informationsflut angekommen ist.
Das in der Literatur empfohlene zweite Aufklärungsgespräch, das grundsätzlich geführt werden sollte, findet im klinischen Alltag selten statt. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Abteilungsdirektor mit Unverständnis darauf reagiert, wenn es einem Arzt nicht im ersten Gespräch gelungen ist, dem Patienten zu verdeutlichen, dass die vorgeschlagene Therapie die optimale Lösung für seine Situation ist. Letztlich ist der aufklärende Arzt Sprecher einer Gruppe von Fachleuten, im Fall der Strahlentherapie von Physikern, Biophysikern, Ingenieuren und Strahlentherapeuten, die bereits im Vorfeld eine aus ihrer Sicht zeitintensive optimale Therapieplanung für den Patienten entwickelt hat.
Die Vermittlung von Information läuft niemals ausschließlich über die Sprache. Krebspatienten erzählen immer wieder, dass sie sich der Krebsdiagnose schon vor der eigentlichen ärztlichen Aufklärung sicher waren. Sie hatten die Diagnose „Krebs“ beispielsweise von dem Gesicht des zuständigen Arztes – während der Visite oder bei einer zufälligen Begegnung auf dem Krankenhausflur – abgelesen. Die nonverbale Kommunikation ist wesentlicher Bestandteil des ärztlichen Aufklärungsgesprächs. Menschen, die mit einer möglicherweise lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind, scheinen eine große Sensibilität für die Authentizität (Echtheit, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit) ihrer Mitmenschen – und insbesondere ihrer Ärzte – zu entwickeln. Dies wird häufig unterschätzt.
Wenn sich die aufklärenden Ärzte – aufgrund ihrer verständlichen Unsicherheit – dazu entscheiden, eher weniger als mehr zu sagen, kann dies für die Patienten schwerwiegende Folgen haben. Eine ungenügende Aufklärung kann für den Patienten schlimmstenfalls ein „Diebstahl an seinem Leben“ sein. So kann eine geschönte Prognose ihn daran hindern, Dinge in die Wege zu leiten, die er getan hätte, wenn er um den Ernst seiner Lage gewusst hätte.
Eine nicht vollständige Aufklärung ist eine Entmündigung des Patienten. Nicht selten ahnen die Patienten, „dass nicht alles gesagt worden ist“. Eine Bestätigung dieser Vermutung zieht oft einen kompletten Vertrauensverlust und den Beziehungsabbruch zum behandelnden Arzt nach sich. Dies ist für Patienten – trotz des damit verbundenen konsequenten Handelns – ein sehr belastendes Erlebnis.
Das Vertrauen in ihre behandelnden Ärzte steht bei Krebspatienten in ihrer Diagnose- und Krankheitsbewältigung an erster Stelle. Es ist der Dreh- und Angelpunkt bei der Kooperation zwischen Arzt und Patienten und absolut unentbehrlich für die Bewältigung der Krebstherapie und die Angstbewältigung. 
Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A 3076–3081 [Heft 46]
Literatur
* Eberbach WH (1984): Die Aufklärung des Patienten vor dem Hintergrund der Einstellung zum Tod. In: Medizinrecht, Heft 6, 201–240.
* Hoff F (1975): Der Krebskranke, der Arzt und die Wahrheit. In: Therapiewoche 26, 6033–6039.
* Jaspers K (1954): Die Idee des Arztes und ihre Erneuerung. In: Umstrittene Probleme in der Medizin. Medica, Stuttgart, Zürich 151–163.
* Jonasch K (1985): Zum Prozess der Aufklärung bei Karzinompatienten. Medizinische Dissertation, Heidelberg.
* Klusmann D (1998): Das ärztliche Aufklärungsgespräch. In: Verres R, Klusmann D (Hrsg.): Strahlentherapie im Erleben der Patienten. Johann Ambrosius Barth Verlag, Heidelberg–Leipzig.
* Klusmann D (2000): Doctor-Patient-Communication in Radiotherapie (unveröffentlichtes Manuskript).
* Köhle K (1984): Aufklärung von Patienten im fortgeschrittenen Krebsstadium. In: Münch Med Wsch 126, 214–219.
* Schlömer U (1994): Psychologische Unterstützung in der Strahlentherapie. Springer Verlag Wien–New York.
* Schlömer-Doll U, Doll D (1996): Zeit der Hoffnung – Zeit der Angst. Psychologische Begleitung von Krebspatienten. Springer Verlag Wien–New York.
* Schlömer-Doll U, Doll D (2000): Bedürfnisse, Rechte und Pflichten – aus der Sicht von Krebspatienten. Kongress-Dokumentation: „Kongress für Krebsbetroffene“, März 2000 in Herford.

Anschrift der Verfasser:
Dr. phil. Ute Schlömer-Doll
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